Juni 2019 - Bemerkung: Die meisten in dieser Rede verlinkten Web-Adressen sind veraltet und funktionieren nicht mehr. Eine Aktualisierung würde aber den Text aus seinem Kontext reißen. Daher wurde bei den ungültigen Adressen nunmehr die Links entfernt. Leser mögen bei Interesse nach dem Verbleib der Adressen suchen. Ausnahme: Der Link zu Bruce Schneiers Cryptogram wurde aktualisiert (Vielen Dank an H.B. von comparitech-Blog!).

Claus Schönleber

Begrüßungsrede

zur Informationsveranstaltung

"Bürger - Netze - Daten"

23. September 2000
 

Ich begrüße Sie zu unserer Veranstaltung "Bürger - Netze - Daten". Vor zehn Jahren wußten die meisten normalen Menschen höchstens vom Hörensagen etwas über e-mail, Internet oder chats. Und wenn jemand diese Worte von sich gab, erkannte man sofort den Unnormalen, den Freak.

Heute werden diese neuen Kommunikationsmittel wie selbstverständlich benutzt, neben den ebenfalls etablierten Mobiltelefonen, welche von den Älteren unter uns schon mal als Belästigung empfunden werden. (Daran erkennt man übrigens, daß man selbst älter wird.) Schaut man aber über das unbekümmerte Anwenden der neuen Techniken hinaus, dann sieht man Folgen sowohl für den Verbraucher, als auch auf Seiten der Anbieter, der Drittparteien, die sich durch die Etablierung moderner Techniken neue Erkenntnisse und höhere finanzielle Gewinne versprechen, und auf Seiten staatlicher Stellen, denen völlig neue Methoden und Werkzeuge zur Verfügung stehen, um die ihnen zugewiesenen Aufgaben noch besser erfüllen zu können.

Dabei schießt der eine oder die andere im Eifer des Gefechts gerne mal über das eigentliche Ziel hinaus. Wie auch in der Gentechnik, die faszinierende neue Methoden verspricht, bisher schwer oder gar nicht heilbare Krankheiten zu kurieren. Oder schädlingsresistentes Pflanzenmaterial herzustellen, um die Ernten zu verbessern. Andrerseits kann man auch pflanzenschutzmittelresistentes Getreide erzeugen, damit der Landwirt ein bestimmtes Mittel kaufen muß, um seine Aussaat vor Schädlingen zu schützen. Oder die Originalsouveniers zur Olympiade 2000 in Sydney mit künstlichen Gensequenzen zu markieren, um sie von Fälschungen leicht und sicher unterscheiden zu können. Oder um die Gendaten eines ganzen Landes wie zum Beispiel Island oder Estland von der Regierung einsammeln zu lassen, um die Daten an die Industrie weiterzuverkaufen. Oder um einem Arbeitnehmer den Arbeitsplatz zu kündigen oder zu verwehren - wie es nicht wenige Firmen in den USA bereits handhaben - , weil sich in seinen Genen eine mögliche Erkrankung ablesen läßt.

In den Datennetzen sieht es zur Zeit nicht besser aus. Mit einem einzigen Mausklick auf eine Seitenreferenz, einen sogenannten link, offenbaren Sie dem Anbieter nicht nur, von welchem Rechner Sie die Anfrage abgeschickt haben. Sie verraten im selben Augenblick, welchen Provider Sie benutzen, in welcher Zeitzone sich Ihr Rechner befindet, in welchem Land sich der Rechner befindet, welches Betriebssystem Sie in welcher Version benutzen, welchen Browser Sie gerade für diesen Klick verwendet haben, eventuell Ihre e-mail-Adresse oder gar Ihre Bildschirmauflösung. Je nach Situation können noch wesentlich mehr Daten von Ihnen erfahren werden.

Wenn Sie dann ein zweites Mal dieselbe Seite besuchen, dann kann der Anbieter beginnen, ein Profil von Ihnen zu erstellen. Beispielsweise wann Sie jeweils Waren bestellen, wann Sie Nachrichten lesen oder welches Ihre bevorzugten Quellen für Bilder sind.

Und die Augen, die das alles und noch mehr sehen können, sitzen an vielen Stellen: in Ihrem lokalen Netz am Arbeitsplatz, bei Ihrem Provider, bei professionellen, privaten oder behördlichen Lauschposten und natürlich auch beim Anbieter selbst.

Darüberhinaus stecken in vielen bunten Programmen kleine, unsichtbare Helferlein, die, während sie ihre offizielle Arbeit verrichten, eifrig Daten sammeln und das ergatterte Material an den Programmautoren zurücksenden. So zum Beispiel ein bekannter Browser, der in dem Moment Kontakt mit seiner Herstellerfirma aufnimmt, in dem Sie Ihre e-mail-Verwaltung starten. So kann sich dann jene Firma ein Bild davon machen, wann und wie oft Sie Ihre e-mail lesen. Oder ein anderes Programm, das dem Hersteller verrät, welche Adresse Ihr Rechner hat und was Sie gerade aus dem Netz herunterladen, auch wenn Sie gar keinen Kontakt mit diesem Hersteller angefordert hatten.

Aber es gibt auch die andere, bessere Seite. Sie haben plötzlich die Möglichkeit, Einblick in Vorgänge oder Dokumente zu erhalten, von deren Existenz Sie noch nicht einmal etwas ahnten. Man muß nur fleißig suchen, und man findet Anbieter, die sich auf interessante Nachrichten spezialisiert haben, oder man findet einfach einen Server, der nur schlecht konfiguriert ist und so Dokumente weltweit wohlfeil anbietet, die gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren.

Darüberhinaus erhalten Sie Nachrichten aller Art aus erster Hand, direkt von der Quelle.

Mit diesen neuen Chancen ergeben sich aber auch neue Pflichten. Nicht mehr eine zentrale Redaktion filtert Wichtiges aus dem überreichen Angebot oder trennt erwünschte Nachrichten von unerwünschten. Die Redaktionsarbeit  findet sich nun plötzlich beim Endverbraucher wieder. Man hat sich um Kompetenz zu bemühen, damit Nachrichten bewertet und eingeordnet werden können. Medienkompetenz heißt nun eine der ersten Bürgerpflichten.

Der Mensch wandelt sich vom passiven Konsumenten, zu dem er in der Vergangenheit gepreßt wurde, zum aktiven Entscheider. Wer das nicht will, wird zwangsläufig zur Melkkuh oder zum Opferlamm.

Aber nicht Furcht vor der neuen Technik, sondern kompetente und bewußte Anwendung ist die Lösung, das kritische und vor allem laute Beobachten, nicht resigniertes Wegschauen ist das Mittel der Wahl. Nicht gegenüber dem großen Bruder, den es nur in Büchern gibt, sondern gegenüber den vielen kleinen Brüdern, die ihre Pflicht nicht nur oft übereifrig, sondern meistens auch mit Scheuklappen verrichten.

Immer wenn ein solcher kleiner Bruder einen guten Grund angibt, Freiheiten einzuschränken, sollte man aufhorchen. Denn dann gibt es auch stets einen anderen, besseren Grund es vielleicht lieber zu lassen. Seien Sie aufmerksam, wenn jemand gute Gründe hat!

(Es gilt das gesprochene Wort. Die Papierversion dieses Textes ist ein Ausdruck der digitalen Version, welche in HTML formuliert wurde. Die Unterstreichungen sind technisch bedingt und stellen keine inhaltliche Auszeichnung dar.)


Webseite der Veranstaltung:

http://www.bn-sh.de/treffen/tagung.html

Webseiten des Autors:

Privat: http://www.schoenleber.org/
Firma: http://www.schoenleber.com/

Webseiten der Veranstalter:

Volkshochschule der Landeshauptstadt Kiel: http://www.vhs-kiel.de/
Bürgernetz für Schleswig-Holstein e.V.: http://bn-sh.de/

Weitere Informationsmöglichkeiten:

Vortrag von  Andrea Wardzichowski zur selben Veranstaltung: http://andrea.shuttle.de/VHSkiel2000/
Artikel über Medienkompetenz: http://www.bn-sh.de/projects/bild/medienkompetenz.html
 

Nachrichtenquellen:

Cryptome: http://cryptome.org/
Cryptogram Newsletter: (alt:) http://www.counterpane.com/crypto-gram.html (Link aktualisiert auf schneier.com)
Maxfreedom: http://www.maxfreedom.com/
Slashdot: http://www.slashdot.org/
Telepolis: http://www.heise.de/tp/

claus@schoenleber.com